Wofür negative Emotionen gut sind

"So ein Quatsch" magst du jetzt vielleicht denken. Wozu ist es gut, negative Emotionen zu haben?! Es hat doch noch nie jemandem etwas gebracht, sich schlecht zu fühlen! Und tatsächlich unternehmen wir alles dafür, uns möglichst oft gut zu fühlen. Wir gehen shoppen, konsumieren Genussmittel, suchen das Abenteuer, schauen TV… Und selbst die Jammerer jammern, um Zuwendung und Mitgefühl zu erhalten, wodurch sie sich wieder besser fühlen.

 

Tatsächlich sind negative Emotionen im richtigen Mass positiv und für unser inneres Gleichgewicht sogar notwendig!  

 

WUT

 

Wut zeigt dir auf, dass sich etwas für dich nicht stimmig anfühlt und gibt dir die notwendige Power, dich dagegen zu wehren oder für das, was du möchtest, einzusetzen. Wut ist eine dynamische Kraft. Ohne Wut gibt es keine Bewegung. Die Kraft der Wut macht handlungsfähig, lässt uns klar ja oder nein sagen, Entscheidungen treffen und macht uns greifbar für andere. Sie hilft uns, neue Ideen umzusetzen oder Dinge zu beenden. Menschen mit einer gesunden "Wutkraft" werden vom Umfeld ernst genommen. Zu viel Wut wirkt allerdings zerstörend und verletzend. Es ist alles eine Frage des richtigen Masses.

 

Wenn du ein Mensch bist, der sich ständig anpasst, dessen Grenzen dauernd überschritten werden und der immer nachgibt, dann hast du einen Mangel an „Wutkraft“ in dir. Menschen, die Wut negativ bewerten, neigen dazu, diese zu unterdrücken. Dadurch sind sie zwar immer lieb und haben keine oder kaum Konflikte in ihrem Leben – dies hat aber seinen Preis! Der Konflikt entsteht dann im Innern und kann sich sogar physisch in Form von Symptomen manifestieren.

 

Deine Bedürfnisse äussern kannst nur du. Du bist dafür verantwortlich, deine Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und sie nach aussen zu vertreten. Die richtige Dosis Wut hilft dir dabei.

 

TRAUER

 

Trauer ist in unserer Gesellschaft wahrscheinlich am meisten verpönt. Häufig überfordert es die Mitmenschen, wenn jemand traurig ist oder man erntet Spott für seine Trauer. Dabei ist Trauer eine sehr wichtige Emotion!

 

Im Leben ist alles in Bewegung und nichts lässt sich festhalten. Trauer hilft, anzunehmen was ist. Wenn du weisst, was du willst, es jedoch gerade nicht so ist und du es nicht ändern kannst, hilft Trauer, dies zu akzeptieren. Sie hilft dir, deinen Wunsch zu würdigen und anzunehmen, dass du es nicht ändern kannst. Sie hilft beim Loslassen von Dingen, Situationen, Menschen, Glaubenssätzen, Wünschen, Vorstellungen, der Zeit. Durch die Trauer können wir besser umgehen mit alltäglichen Enttäuschungen wie beispielsweise dem schlechten Wetter, aber auch mit dem Älter werden. Durch sie können wir Vergangenes wertschätzen. Bekanntlich weiss man die Dinge ja erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hat. Trauer gibt uns die Möglichkeit, Frieden zu schliessen. Sie erzeugt Tiefe und öffnet das Herz für die Liebe. Eine gesunde "Trauerkraft" erzeugt Herzenswärme, Verständnis und Mitgefühl.

 

Auch hier ist das richtige Mass gefragt. Durch zu viel Trauer (und zu wenig Wut) spürt man keinen Impuls für Veränderung, selbst wenn Veränderung möglich wäre. Solche Menschen suhlen sich in der Opferrolle und neigen zu Depression. Zu wenig Trauer hingegen verhindert Tiefe, Freude, Nähe und inneren Frieden. Da nichts ewig ist, neigen solche Menschen dazu, sich erst gar nicht richtig auf etwas einzulassen, um die anschliessende Trauer zu vermeiden. Sie können sich auch nicht über etwas richtig von Herzen freuen.

 

ANGST

 

Angst ist die Kraft, die wir vermutlich am meisten vermeiden wollen. Vor ihr haben wir schlichtweg Angst. Wenn wir etwas weder ändern noch akzeptieren können, dann kommt die Angst. Dabei ist Angst die Energie, die Neues entstehen lässt.

 

Angst hat die Aufgabe, uns vor Gefahr zu schützen. Sie signalisiert aber nicht nur „Achtung Gefahr“, sondern auch „Unbekanntes Gebiet“. Um Unbekanntes zu wagen, müssen wir unser sicheres und bekanntes Terrain verlassen. Und das verursacht Stress bzw. Angst. Es gibt aber kein kontrolliertes Abenteuer oder die Gewissheit, dass uns das Neue gefallen wird. Angst symbolisiert eine manchmal schier unüberwindbare Grenze. Zu viel Angst wirkt lähmend und stagnierend. Vermeidungsstrategien mindern die Lebensqualität. Wenn man sich der Angst aber stellt, erschliessen sich einem ganz neue Möglichkeiten und Erfahrungen. Sie spornt an, kreative Lösungen zu finden und Grenzen zu überwinden. Durch sie können wir uns erst auf Ungewisses einlassen, Abenteuer erleben und über uns hinauswachsen. Sie fördert unsere Entwicklung! Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern etwas trotzdem zu wagen. Dies gibt dem Leben erst die Würze.

 

Als ich einmal eine grosse Angst überwunden habe, hatte ich lange Zeit das Gefühl, 10 cm gewachsen zu sein. Ich erinnere mich gut an die stolze Freude und innere Zufriedenheit, die ich empfunden habe. Wir sind zu viel mehr fähig, als wir denken. Angst macht Entwicklung erst möglich.

 

SCHAM

 

Entgegen der oben genannten Gefühle bezieht sich Scham nicht nach aussen auf eine Situation oder Person, sondern nach innen auf das eigene Selbst. Scham lässt uns den Blick nach innen richten und uns selbst reflektieren. Im besten Fall können wir auf diese Weise eine gesunde, ehrliche Beziehung zu uns selbst aufbauen und wir erkennen unsere Stärken und Schwächen. Wir können Kritik annehmen, aus Momenten der Scham lernen und unser Verhalten korrigieren. Scham fördert nicht nur unsere Selbstkompetenz, sondern auch unsere Sozialkompetenz. Sie fördert die Fähigkeit, uns in einer Gruppe einzugliedern und ein Gewissen zu entwickeln. Das unangenehme Gefühl der Scham hilft, sich angemessen zu verhalten. Scham macht uns also erst gesellschaftsfähig.

 

Zu wenig Scham fördert Narzissmus und Egoismus. Sie verhindert, dass wir unsere Fehler und Schwächen, die wir zweifellos alle haben, wahrnehmen und allenfalls korrigieren können. Fehler werden ausgeblendet oder auf andere projiziert.

 

Zu viel Scham ist auch nicht gut. Menschen mit zu viel Scham neigen zu Selbstzerfleischung, Perfektionismus und mangelnder Selbstliebe. Sie haben ständig das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben oder sogar in ihrem Sein falsch zu sein. Somit beziehen sie ständig alles auf sich selbst, auch Dinge, für die sie gar nichts können. Zudem verhindert sie, dass wir mit der Welt generell in Beziehung treten, weil immer alles auf einen selbst bezogen wird. Somit muss man sich weder mit Wut, Trauer oder Angst auseinandersetzen.

 

Wie du sehen kannst, sind negative bzw. unangenehme Emotionen äusserst wichtig für die Selbstregulation und die innere Balance. Das eigentliche Problem ist lediglich unsere Bewertung der Emotionen und die Dosis. Wir dürfen lernen, Verantwortung zu übernehmen für unser Innenleben.